Militarisierungstendenzen 1990 — 2009
Der Globale Militarisierungsindex (GMI) des Internationalen Konversionszentrums Bonn (BICC) definiert Militarisierung im quantitativen Sinne als die den staatlichen Streitkräften zur Verfügung stehenden Mittel und Kapazitäten. Er bildet das relative Gewicht und die Bedeutung des Militärapparats eines Staates im Verhältnis zur Gesellschaft als Ganzes ab. Dazu werden Daten wie „Militärausgaben als Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP)“ oder „Militärausgaben im Verhältnis zu Ausgaben im Gesundheitsbereich“ berücksichtigt. Die Höhe der Militarisierung wird dann mit einer Punktezahl zwischen 0 und 1000 Punkten bestimmt. Auf diese Weise entsteht eine Länderrangfolge (z.B. „Top 10 Index “ bzw. „Untere 10 Index“), die Auskunft über den Militarisierungsgrad gibt. Die Analyse der Militarisierungsgrade erlaubt, Tendenzen von Auf- und Abrüstung zu beobachten, und kann dazu dienen, bestimmte entwicklungs- oder gesellschaftspolitische Fragen zu stellen.
Im Jahr 2009 belegen Israel (865 Punkte), Singapur (843 Punkte), Syrien (796 Punkte), Jordanien (779 Punkte), Russland (777 Punkte), Südkorea (748 Punkte), Zypern (738 Punkte), Griechenland (736 Punkte), Kuwait (736 Punkte) und Weißrussland (731 Punkte) die ersten zehn Plätze des GMI.
Naher und Mittlerer Osten
Dass vier Länder des Nahen und Mittleren Ostens an der Spitze dieser Top 10 stehen, verweist auf die hohe Militarisierung dieser konfliktreichen Region, die zu ihrer weiteren Instabilität beiträgt. Insgesamt befanden sich im Jahr 2009 neun der 15 Länder der Region unter den 20 Ländern mit den höchsten Militarisierungsgraden.
Diese Tendenz zur Militarisierung lässt sich für den Nahen und Mittleren Osten bereits seit 1990 nachvollziehen. Während zu diesem Zeitpunkt mit Israel, Kuwait und Syrien drei Länder unter den zehn weltweit am stärksten militarisierten Länder waren, stieg ihre Zahl bis 2009 auf vier an. Nicht zuletzt durch die hohen Öleinnahmen der vergangenen Jahre war die Steigerung der Militärausgaben zwischen 2000 und 2009 um 83 Prozent von 51,4 Milliarden US-Dollar auf 91,4 Milliarden US-Dollar möglich.
Die konstant hohe Militarisierung nicht nur Israels, sondern auch anderer Länder der Region kann auf gegenseitige Bedrohungsperzeptionen zurückgeführt werden. Israels Bedrohungswahrnehmungen werden besonders durch den andauernden Konflikt in den palästinensischen Gebieten, terroristische Angriffe sowie den drohenden Konflikt im Libanon und die iranische Regional- und Nuklearpolitik angefacht.
In Saudi Arabien ist ebenfalls ein Anstieg der Militarisierung zu verzeichnen: lag es im Jahr 1990 noch auf dem 21. Rang, sank sie zunächst bis Mitte der 2000er auf Platz 34 (1996), um danach bis 2009 kontinuierlich auf Platz 15 anzusteigen. Umfangreiche Waffengeschäfte mit den USA in den kommenden zehn Jahren im Umfang von 60 Milliarden US-Dollar könnten den Militarisierungsgrad weiter steigern.
Russland, die USA und die NATO
Kurz nach Ende des Kalten Krieges trat Russland 1992 die Rechtsnachfolge der ehemaligen Sowjetunion an und wurde nach dem Index der am stärksten militarisierte Staat der Welt. Die USA wiesen im Vergleich dazu einen weitaus niedrigeren Militarisierungsgrad auf (Rang 30). Im Jahr 2000 lag die Russische Föderation dann weltweit auf Platz 7. Selbst zwanzig Jahre nach Ende der Blockkonfrontation wird deutlich, dass Russland (2009: Rang 5) im Verhältnis zur Gesellschaft mehr Ressourcen für den Militärsektor aufwendet als die USA (2009: Rang 35), auch wenn das absolute Verteidigungsbudget der USA deutlich höher ist als das Russlands. Was diese Zahl angeht, liegen die USA mit 663 Milliarden US-Dollar und einem Anteil von 43 Prozent der globalen Rüstungsausgaben an der Weltspitze.
Russland unterhält eine Vielzahl konventioneller Großwaffensysteme. Trotz der in der Militärstrategie von 2008 vorgesehenen personellen Reduzierungen verfügt es nach wie vor über eine große Armee. Die USA haben ihre Streitkräfte in den letzten Jahrzehnten im Zuge einer Modernisierung und Umgestaltung bereits deutlicher reduziert. Doch die Kriege in Afghanistan und dem Irak sowie der Kampf gegen den internationalen Terrorismus verursachten einen großen finanziellen Einsatz. Während der Militarisierungsgrad der USA zwischen 1992 und 2000 kontinuierlich von Rand 30 auf Rang 57 abgesunken war, setzte ab 2001 eine Trendwende ein, nach der die Vereinigten Staaten 2009 wieder auf Platz 35 gelandet sind.
Ein Vergleich der ehemaligen Blöcke ergibt folgendes: während bei den meisten Mitgliedern der NATO zu Beginn der 1990er Jahre mittlere bis geringe Militarisierungsgrade zu beobachten waren, rangierten die ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts weit oben. Der GMI scheint hier die These zu stützen, dass die NATO den Warschauer Pakt „totgerüstet“ hat. Seine hohen Militärausgaben vor allem im konventionellen Bereich standen im krassen Gegensatz zur gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung der Ostblockstaaten, die zudem nicht mit dem technologischen Fortschritt der NATO mithalten konnten.
Seit Mitte der 1990er Jahre sind bei den ehemaligen Mitgliedern des Warschauer Pakts Polen (2000: Platz 41, 2009: Platz 84), Rumänien (2000: Platz 18, 2009: Platz 48) und Ungarn (2000: Platz 37, 2009: Platz 68) deutlich abnehmende Militarisierungsgrade zu beobachten.
Ausnahmen bilden Bulgarien und Weißrussland. Bulgarien befand sich 2000 auf Rang 8 und 2009 immerhin noch auf Rang 19. Mögliche Ursachen dafür sind seine umfangreiche Beteiligung bei internationalen Militäreinsätzen, u.a. im Irak, und seine strategische wichtige Position als Schwarzmeeranrainer. Weißrussland ist im Jahr 2009 unter die Top 10 der Militarisierung gelangt. 1992 befand es sich auf Platz 15. Nach einer kurzen Phase geringerer Militarisierung zwischen 1996 und 1998 kam es im Jahr 2000 auf Platz 19. Die kontinuierlich recht hohe Militarisierung in dieser ehemaligen Sowjetrepublik kann auf die stabilisierende Funktion des Militärs für das autoritäre Regime des seit 1994 regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko zurückgeführt werden.
Die Tendenz zur Abrüstung ist auch in den meisten neuen NATO-Mitgliedsstaaten in Osteuropa zu sehen. Ausnahmen bilden Estland (2000: Platz 65, 2009: Platz 37), Lettland (2000: Platz 90, 2009: Platz 78) und Litauen (2000: Platz 78, 2009: Platz 52). Mögliche Ursachen sind hier die im Baltikum weiterhin wahrgenommene Bedrohung durch Russland sowie die nötige Modernisierung der Streitkräfte im Rahmen des NATO-Beitritts. So fordert die NATO ein Verteidigungsbudget von mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das sie zur kritischen Marke für die Aufrechterhaltung der Verteidigungsaufgaben im Bündnis erklärt hat.
Unter den westeuropäischen NATO-Partnern nimmt Griechenland eine besondere Stellung ein, was seinen Militarisierungsgrad angeht. Dieser hält sich seit 1990 konstant unter den Top 10 (1990: Rang 10, 2000: Rang 10, 2009: Rang 8). Das Land wendet seit Jahren gemessen am BIP die höchsten finanziellen Ressourcen für sein Militär innerhalb Europas und auch der EU auf. Treibende Faktoren hierfür könnten die Zypernfrage und darüber hinaus ganz allgemein der andauernde Konflikt mit dem Nachbarland und NATO-Partner Türkei sein, der in Griechenland bestimmte Bedrohungsperzeptionen auslöst. Diese hohen Militärausgaben, die in der Vergangenheit auch für umfangreiche Rüstungsgeschäfte verwendet wurden, könnten eine der Ursachen Wirtschafts- und Finanzkrise sein.
Der ungelöste Konflikt in Zypern spiegelt sich in seinem konstant hohen Militarisierungsgrad wider (1990: Platz 3, 2000: Platz 5, 2009: Platz 7).
Der Militarisierungsgrad Deutschlands ist seit der Wiedervereinigung 1991 mehr oder weniger gleichmäßig von Platz 36 auf Platz 86 im Jahr 2007 gesunken. 2009 lag er mit Platz 81 im Weltmaßstab weiterhin im mittleren Bereich.
Sub-Sahara Afrika
In Afrika südlich der Sahara ist seit Jahren ein niedriger Militarisierungsgrad zu beobachten. Ausnahmen bilden Angola (2009: Rang 31), Mauretanien (2009: Rang 36), Djibuti (2009: Rang 40), der Tschad (2009: Rang 57) und Namibia (2009: Rang 59).
Eine Spitzenstellung nahm über einen längeren Zeitraum Eritrea ein. Seit 1997 im Vorfeld des Krieges mit Äthiopien war ein starker Anstieg der Militarisierung zu beobachten. Insbesondere nach den Kriegsjahren 2000 bis 2002 wurde deutlich, dass dem Militär unverhältnismäßig viele Ressourcen zur Verfügung stehen, die den anderen Sektoren bis heute fehlen und die Entwicklung nachhaltig beeinträchtigten. In den Jahren, in denen belastbare Zahlen zur Verfügung standen (1998 bis 2006), wies Eritrea den jeweils höchsten Militarisierungsgrad der Welt auf. Kein Land in Afrika gab also gemessen am BIP soviel für das Militär aus. Ein erfolgreicher Demobilisierungs- und Demilitarisierungsprozess fand nicht statt. Auch noch lange nach dem Krieg verfügt das Militär über großen Einfluss, etwa durch besondere Rekrutierungsrechte in der Bevölkerung und die Kontrolle über staatliche Ressourcen.
Es scheint auf den ersten Blick paradox, dass viele afrikanische Länder wie etwa Madagaskar (Beginn bewaffneter Konflikt 2002, Platz 126), Demokratische Republik Kongo (Kriegsbeginn Ostkongo 2005, Platz 133), Zentralafrikanische Republik (Kriegsbeginn 2006, Platz 126), Nigeria (Beginn bewaffneter Konflikt 2004, Platz 133) und Mali (Kriegsende 1996, Platz 111) zwar von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen waren bzw. sind, dabei jedoch niedrige Militarisierungsgrade aufweisen. Mit anderen Worten, der staatliche Sicherheitsapparat ist dort zu schwach, um die öffentliche Sicherheit nach außen und nach innen herzustellen. In solchen Fällen scheinen die Mittel, die die Regierungen dem Militär zur Verfügung stellen, tatsächlich zu knapp zu sein.
Asien
Mit Singapur und Südkorea lagen 2009 zwei der zehn höchstmilitarisierten Länder der Welt in Ostasien. Im Falle von Südkorea sind sicher die andauernden Spannungen mit Nordkorea, die sich immer wieder in militärischen Zwischenfällen äußern, eine Ursache für den hohen Militarisierungsgrad.
Erklärungen für den hohen Militarisierungsgrad Singapurs liegen nicht ohne weiteres auf der Hand. Das Land verfügt über moderne Waffensysteme und eine gut ausgebildete Armee. Gemessen an der geringen Größe des Stadtstaates und der relativ kleinen Einwohnerzahl sowie der weitestgehend friedlichen Entwicklung könnte man die Streitkräfte als überdimensioniert ansehen. Hintergrund mag die allgemeine politische Lage der Region sein. Mehrere Länder haben dort innere, teilweise sehr blutig ausgetragene Konflikte – so Burma, Indonesien und die Philippinen. Seit dem 11. September 2001 und den Bombenanschlägen auf Bali am 12. Oktober 2002 stellt der islamistisch geprägte Terrorismus für viele – vor allem westlich orientierte – Staaten eine große Bedrohung dar.
Mittel- und Südamerika
Die meisten Länder in Zentralamerika haben relativ niedrige Militarisierungsgrade. Ein deutlicher Rückgang der Militarisierung vollzog sich z.B. in Nicaragua zwischen 1990 (Rang 9) und 2009 (Rang 115), wo nach dem Ende des von den USA aktiv unterstützen bewaffneten Konflikts die Ressourcen für die Streitkräfte deutlich reduziert wurden. Ähnliches ist im gleichen Zeitraum in Guatemala und El Salvador zu beobachten, weil auch dort eine Vielzahl von Konflikten beigelegt werden konnten. Die Frage, warum sich die „Drogenkriege“ in Guatemala, El Salvador und Mexiko nicht in einem hohen Militarisierungsgrad und umfangreichen staatlichen Verteidigungsausgaben widerspiegeln, mag damit zusammenhängen, dass in diesen Republiken nicht das Militär, sondern die Polizei- und Sicherheitskräfte an vorderster Front kämpfen.
In Südamerika befinden sich die Militarisierungsgrade aller Länder konstant auf einem ähnlichen, recht hohen Niveau. Eine Ursache hierfür liegt sicher in lang anhaltenden, oft mit umstrittenen Grenzverläufen zusammenhängenden Bedrohungsperzeptionen, z.B. zwischen Chile, Argentinien und Peru oder Peru und Ecuador.
Eine Ausnahme bildet in dieser Region Argentinien, wo von 1990 bis 2009 ein leichter, aber stetiger Rückgang des Militarisierungsgrades zu beobachten war (1990: Platz 69, 2000: Platz 125, 2009: Platz 120).
Vor dem Hintergrund des Krieges und dem damit verbundenen Kampf gegen aufständische Rebellengruppen und Drogenkartelle ist die Militarisierung in Kolumbien, unterstützt durch finanzielle Hilfe seitens der USA, seit Beginn des 21. Jahrhunderts erneut angestiegen (1990: Platz 49, 2000: Platz 72, 2009: Platz 43).
Sources and further information:
BICC 09/2011