Chemische Kampfstoffe – Eine Typologie
Nach Erkenntnissen der Chemiker besteht die materielle Welt aus über 40 Millionen verschiedener Stoffe, von denen 80.000 Verbindungen auch industriell hergestellt werden. Ein Teil dieser Substanzen hat eine für den Menschen oder die Natur schädliche Wirkung. Diese gefährlichen Substanzen unterscheiden sich in Industriechemikalien (Toxic industrial chemicals – Tics) oder chemische Waffen (Chemical Warfare Agents – CWA). Die ersten chemischen Waffen im Ersten Weltkrieg waren einfach bekannte Gifte aus der Chemieindustrie (Chlor, Phosgen, etc.), die man in Behälter füllte und an der Front gegen den Feind einsetzte. Später entwickelten Chemiker gezielt Kampfstoffe für den Militäreinsatz. Gemeinhin werden die Kampfstoffe gemäß ihrer pharmakologisch-toxischen Wirkungen wie folgt unterteilt:
Lungenkampfstoffe
Lungenkampfstoffe verhindern die Aufnahme von Sauerstoff in der Lunge. Die Lungenschleimhaut wird zerstört, so dass Blut in die Bläschen eindringt und ein Ödem bildet. Die ersten Chemiewaffen waren solche Lungenkampfstoffe. Ein gegnerischer Soldat konnte damals noch am Geruch der Kampfstoffe erkennen, dass der Feind mit Chemiewaffen angriff und schnell seine Gasmaske überstreifen. Chlor wird zur Desinfektion von Schwimmbädern verwendet, daher ist sein typischer Geruch allgemein bekannt. Das noch giftigere Phosgen riecht nach frisch geschnittenem Gras.
Blutkampfstoffe
Blutkampfstoffe greifen den roten Blutfarbstoff Hämoglobin an, der für den Sauerstofftransport im Körper zuständig ist. Dadurch wird die Sauerstoffaufnahme der Organe blockiert. Zu den bekannten Blutkampfstoffen zählen Arsenwasserstoff, Cyanwasserstoff und Chlorcyan.
Hautkampfstoffe
Die Haut ist bekanntlich das größte Organ des Menschen. Verschiedene Stoffe wurden entwickelt, um die Hautzellen zu schädigen: Senfgas (= Schwefellost) ist ein farbloses Gas mit dem Geruch von Senf oder Knoblauch. Weitere Hautkampfstoffe sind Sstickstofflost und Lewisit. Die Symptome gleichen mal einer Verbrennung, mal einer Verätzung. Oft bilden sich auf der Haut große Blasen, die dann zum Absterben der betroffenen Hautpartien (= Nekrose) führen. Wer einen Angriff mit Senfgas überlebt hat, erleidet ein erhöhtes Krebsrisiko; außerdem können später die Kinder solcher Personen Missbildungen aufweisen.
Nervenkampfstoffe
Die Nervenkampfstoffe sind wesentlich giftiger als die anderen C-Waffen, außerdem kann man sie weder sehen noch riechen. Sie wurden während des „Dritten Reiches“ in Deutschland entwickelt: Gerhard Schrader von der IG Farben in Leverkusen entdeckte im Dezember 1936 erst das Tabun und im Dezember 1939 das Sarin (chem. Bezeichnung: Methlylfluorophosphonsäureisopropylester). Im Jahr 1944 entwickelten der Nobelpreisträger Richard Kuhn und sein Kollege Konrad Henkel beim Kaiser-Wilhelm-Institut in Heidelberg den Kampfstoff Soman.
Der gefährlichste aller Nervenkampfstoffe wurde Mitte der fünfziger Jahre von einem schwedischen Forscher entdeckt. Es handelt sich um „O-Ethyl-S-(2-(diisopropylamino)-ethyl)methylthiophosphonat“. Unter Militärs ist der Stoff einfach als „VX“ bekannt. Vom VX gibt es mehrere Varianten.
Der Name „Nervenkampfstoff“ rührt daher, dass diese Substanzen die chemische Informationsübertragung blockieren: Befehle des Gehirns an die Muskulatur werden durch den Botenstoff Acetylcholin übertragen. Hat die Arm- oder Beinmuskulatur die angestrebte Bewegung ausgeführt, muss das Acetylcholin durch ein entsprechendes Enzym, die Acetylcholinesterase, wieder abgebaut werden. Die Nervenkampfstoffe blockieren dieses Enzym, so dass der Körper in wenigen Minuten mit Acetylcholin überschwemmt wird. Die Folgen sind Erbrechen, Durchfall, Sehstörungen, Muskelkrämpfe, Koma und Atemlähmung, die schließlich zum Tod führt. Der Todeskampf kann mehrere Stunden dauern.
Bei einer Vergiftung muss dem Betroffenen sofort das Gegenmittel Atropin gespritzt werden. Dazu haben die Soldaten eine spezielle Spritze, einen Autoinjektor, mit dem sie sich selbst das Gegenmittel durch die Hose in den Oberschenkel „rammen“ können. Allerdings kann das Atropin eine bereits eingetretene Atemlähmung nicht aufheben, so dass der Soldat durch Mund-zu-Mund-Beatmung am Leben gehalten werden muss.
Reizkampfstoffe
Unter den chemischen Waffen nehmen die Reizkampfstoffe eine Nebenrolle ein, da sie nur in seltenen Ausnahmefällen zum Tod führen. Daher zählen sie zu den so genannten „non-lethal weapons“. Diese Chemikalien werden heutzutage nicht vom Militär, sondern von der Polizei bei Großdemonstrationen eingesetzt, um eine Menschenmenge zu erstreuen. In der Regel handelt es sich um Augenreizstoffe (CN, CS, etc.).
Früher verfügten auch die Streitkräfte über Nasenkampfstoffe (Clark I/II, Adamsit, etc.). Adamsit ist ein gelblicher Stoff, der starken Hustenreiz, Brechreiz, Kopfschmerzen, Krämpfe und Lungenschmerzen verursacht. Die Symptome können mehrere Tage andauern. Solche Reizkampfstoffe wurden oft als „Maskenbrecher“ (siehe unten) eingesetzt.
Sabotagegifte
Innerhalb der Chemischen Waffen stellen Sabotagegifte eine besondere Kategorie dar. Sie werden nicht von Streitkräften, sondern durch die Nachrichtendienste eingesetzt. Das Ziel ist nicht, möglichst viele Menschen zu töten, sondern einzelne Personen gezielt zu liquidieren. Ausgewählt werden Gifte, die nach Möglichkeit nicht nachweisbar sind. Bei den Sabotagegiften handelt es sich i. d. R. um hochgiftige Biotoxine. Botulin ist eine giftige Ausscheidung des Bakterium Botulinum Clostridium, das im Straßenstaub lebt. Mit einer tödlichen Dosis (LD50) von 0,0000021 mg ist Botulin eines der wirksamsten Gifte. Rizin wird aus der Rizinus-Pflanze gewonnen. Polonium210 ist ein hochgiftiges, radioaktives Isotop.
Mit Polonium210 wurde im November 2006 den russischen Dissidenten Alexander Litwinenko in London ermordet. Da der potentielle Attentäter, der russische Geschäftsmann und frühere KGB-Mitarbeiter Andrej Lugovoj auf dem Weg von Moskau nach London in Hamburg Station machte, konnten dort später geringste Spuren des radioaktiven Materials nachgewiesen werden. Dabei kam eine geheime Sondereinheit des Bundeskriminalamtes, die Zentrale Unterstützungsgruppe des Bundes (ZUB), zum Einsatz.
Psychokampfstoffe
Wie die Sabotagegifte stellen auch die Psychokampfstoffe eine Sonderkategorie dar. Es ist unklar, in welchem Umfang sie jemals tatsächlich eingesetzt wurden. Bekannt wurde, dass die Nachrichtendienste mit diesen Drogen experimentiert haben. So führte die amerikanische CIA die Programme ARTICHOKE und MKULTRA durch, bei denen u. a. LSD-25 und Benzilsäureester (BZ) getestet wurden. Es ging um „Gehirnwäsche“ und um die Entwicklung eines „Wahrheitsserum“ für Verhöre. Mehrere Versuchspersonen starben oder begingen „Selbstmord“. Katzen, denen man BZ verabreicht hatte, ängstigten sich vor Mäusen. Ein militärischer Einsatz von Psychokampfstoffe gilt aber als kontraproduktiv. Man stelle sich nur einmal vor, Soldaten, die mit Atomwaffen ausgerüstet sind, würden paranoide Wahnvorstellungen bekommen.
„Maskenbrecher“
„Maskenbrecher“ sind zwar keine tödlichen Kampfstoffe, aber sie sind dennoch für die Chemische Kriegführung von Bedeutung. Viele Kampfstoffe können von den Filtern der ABC-Masken zurückgehalten werden, daher setzt man spezielle Reizstoffe ein, die den Filter durchdringen. Sie erzeugen Brechreiz und zwingen den Soldaten, seine Schutzmaske abzunehmen, so dass dieser dann von den gleichzeitig eingesetzten giftigen Kampfstoffen getötet wird.
Umweltgifte
Neben den Kampfstoffen, die den Menschen schädigen, werden auch Umweltgifte militärisch eingesetzt. Hier sind vor allem die Herbizide zu nennen. Diese Pflanzengifte werden manchmal auch als „Pflanzenschutzmittel“ propagiert. Durch sie werden Wälder entlaubt oder Ernten zerstört. Die Opfer sterben zwar nicht an dem Umweltgift, aber sie müssen anschließend verhungern. Unter den Herbiziden wurde besonders das Agent Orange bekannt, das die US-Streitkräfte in der Dschungelkriegführung in Vietnam einsetzten.
Man kann die chemischen Waffen nicht nur nach der physiologischen Wirkung, sondern auch nach anderen Kategorien einteilen, z. B. ob sie tödlich oder nicht tödlich, sesshaft oder flüchtig sind. Außerdem zählen die Militärs zu den chemischen Waffen auch noch alle möglichen Nebel- und Rauchsätze.
Quellen und weiterführende Informationen
- Franke, Siegfried (Hrsg.) (1976): Lehrbuch der Militärchemie, Band 1 Entwicklung der chemischen Kampfstoffe, Chemie der Kampfstoffe, Berlin(-Ost), Militärverlag der DDR.
- Hunger, Iris, Meier, Oliver und Arend Wellmann (1996): Das Kleine ABC der Massenvernichtung; in: antimilitarismus information, Nr. 3/1996, Berlin, S. 13-28.
- Schulz-Kirchrath, Stefan (2006): Kompendium Chemische Kampfstoffe, OWR AG (Hrsg.), Elztal-Rittersbach.
- Stöhr, Ralf (Hrsg.)(1977): Chemische Kampfstoffe und Schutz vor chemischen Kampfstoffen, Berlin(-Ost), Militärverlag der DDR.
BICC 01/2013