Nuklearstrategie – Zwischen Abschreckung und Einsatzdoktrin
Seit dem 8. August 1945, dem Tag der Zerstörung Nagasakis durch die Atomwaffe „Fat Man“, ist nie wieder eine nukleare Waffe im Krieg eingesetzt worden. Dieses Tabu gilt seit mehr als 65 Jahren. Auf die Frage, warum es sich schon so lange hält, gibt es zwei Antworten: Die eine besagt, das Erschrecken über Hiroshima und Nagasaki habe zu einer so hohen Hemmschwelle gegen einen erneuten Nuklearwaffeneinsatz geführt, dass nie wieder eine solche Waffe eingesetzt wurde. Die andere besagt, die nukleare Abschreckung mit ihrer gegenseitigen Vernichtungsdrohung habe funktioniert und jeden weiteren Atomwaffeneinsatz verhindert.
Diejenigen, die die zweite Antwort geben, weisen Nuklearwaffen zwei sehr unterschiedliche Rollen zu. Für die einen war die Abschreckung vor allem deshalb erfolgreich, weil die Existenz atomarer Waffen die potentiellen Konfliktparteien zu der Erkenntnis brachte, dass ein atomarer Krieg eher die Menschheit ausrotten würde, als dass er überlebt und gewonnen werden könnte. In diesem Kontext haben nukleare Waffen eine vorrangig politische Rolle. Sie sind ein letztes Mittel und vorhanden, damit sie nicht eingesetzt werden. Für andere hat die Abschreckung vor allem deshalb funktioniert, weil die Konfliktparteien auch glaubwürdig mit der Fähigkeit drohen konnten, einen nuklearen Krieg führen zu können, wenn er begonnen würde. Manche glauben sogar, dass die Fähigkeit, einen nuklearen Krieg zu gewinnen, besonders abschreckend wirke. In dieser Denkweise kommt den nuklearen Waffen eine operative Rolle bei der Konfliktführung zu. Nur wenn diese Rolle glaubwürdig ausgefüllt ist, kann auch die Abschreckung glaubwürdig sein.
Zwischen diesen beiden Polen pendeln die aktuellen nuklearstrategischen Ansätze.
China betreibt zum Beispiel schon lange eine nukleare Minimalabschreckung. Peking hält nur wenige Atomwaffen vor, um einem potentiellen Gegner (z.B. Russland, Indien oder den USA) durch einen begrenzten nuklearen Vergeltungsschlag hohen Schaden androhen zu können. Die deklaratorische Nuklearpolitik Chinas kann deshalb sowohl auf die Möglichkeit eines nuklearen Ersteinsatzes verzichten, als auch darauf, den eigenen Nuklearwaffen eine dezidierte Rolle bei der Kriegführung zuzuweisen. In den USA dagegen wurden im Laufe der Jahrzehnte sowohl Strategien für eine politisch abschreckende Rolle nuklearer Waffen entwickelt als auch sehr detaillierte Modelle einer Kriegsführungsabschreckung. Gegen beide Länder wurde nie eine Nuklearwaffe eingesetzt. Funktionierte die Abschreckung also unabhängig von der Rolle, die den nuklearen Waffen dabei zugedacht war? Lag es überhaupt an der nuklearen Abschreckung?
Einen definitiven Nachweis, dass die eine der Antworten richtig und die andere falsch ist, gibt es nicht. Man kann nicht beweisen, dass oder wie die nukleare Abschreckung funktioniert. Ob und welche Antwort man für richtig hält, ist letztlich „Glaubenssache“.
Die Entwicklung der Nuklearstrategie der „Supermächte“
Am Beispiel der USA lässt sich die Entwicklung des nuklearstrategischen Denkens am besten nachvollziehen. Am Anfang standen Weiterentwicklungen des Konzeptes der strategischen Bombardements von Städten im 2. Weltkrieg: Rotterdam und London, Hamburg und Dresden, Hiroshima und Nagasaki. Die atomare Bombe versprach, die Vernichtung von Großstädten durch einige wenige statt vieler Tausend Bomber zu ermöglichen und den Kriegswillen des Gegners durch die überwältigende Wirkung der neuen Waffe rasch brechen zu können. 1945 sah die Planung der USA für die „Operation Totality“ vor, bei einem sowjetischen Angriff bis zu 30 US-Atomwaffen auf rund 20 Städte in der UdSSR zu werfen; drei Jahre später waren bereits 133 atomare Waffen vorgesehen.
Als die UdSSR 1949 das Atomwaffen-Monopol der USA durchbrach, blieb die nukleare Dominanz der USA dennoch zunächst bestehen. Washington besaß die Möglichkeit, Städte in der Sowjetunion atomar anzugreifen, der UdSSR aber fehlte diese Option. Sie besaß keine Trägersysteme ausreichender Reichweite und konnte ihre atomaren Waffen nicht – wie die USA in Europa – weit genug vorgeschoben stationieren, um Ziele in den USA angreifen zu können.
Die nukleare Überlegenheit eröffnete den USA in Europa die Möglichkeit, im Falle eines Angriffs mit einer nuklearen Eskalation des Krieges zu drohen, ohne dass die UdSSR eine gesicherte Möglichkeit eines atomaren Vergeltungsschlages gegen Ziele in den USA gehabt hätte. Seit 1954 wurde die Option einer „massiven Vergeltung“ mit nuklearen Waffen für den Fall eines großen konventionellen Angriffs immer wieder betont.
Die Entwicklung sowjetischer Langstreckenraketen (Sputnik-Schock 1957) und der Versuch Moskaus, atomare Mittelstreckenraketen in Kuba aufzustellen (Kuba-Krise 1962), machten deutlich, dass das Territorium der USA bald kein Sanktuarium mehr sein würde. Die Kuba-Krise zeigte, wie leicht ein Konflikt der Nuklearmächte eskalieren konnte. Nur mit viel Glück konnte damals ein großer nuklearer Schlagabtausch vermieden werden.
Von diesem Zeitpunkt an musste die neue Strategie auch dann glaubwürdig sein, wenn beide Supermächte über ähnliche nukleare Fähigkeiten verfügen würden und sich mit wechselseitig zugesicherter Vernichtung (mutual assured destruction - MAD) drohen könnten. Robert McNamara, 1961 bis 1968 Verteidigungsminister der USA, zog Konsequenzen. Unter seiner Ägide kam es zu ersten Gesprächen mit der UdSSR über Mechanismen für ein nukleares Krisenmanagement und erste Beschränkungen des nuklearen Rüstungswettlaufs. McNamara forderte deutlich bessere konventionelle Fähigkeiten zur Verteidigung Europas, um die Abhängigkeit von einem Atomwaffeneinsatz und der Drohung mit einem globalen nuklearen Krieg zu reduzieren.
Die neue „Strategie der flexiblen Antwort“ (NATO-Strategie seit 1967/1968) fußte auf einem scheinbar abgestuften Eskalationskontinuum, bei dem auf die direkte konventionelle Verteidigung eine freiwillige, nicht erzwungene Eskalation durch den Einsatz nuklearer Gefechtsfeldwaffen und schließlich ein allgemeiner strategischer Nuklearwaffeneinsatz folgen konnten. Es wurde bewusst offen gelassen, wann welche Eskalationsstufe gewählt und ob jede dieser Stufen durchlaufen würde. Der Gegner sollte keine Möglichkeit haben, das Handeln des Westens vorherzusagen. Die Strategie ließ zudem die Möglichkeit offen, dass die NATO Nuklearwaffen als erster einsetzen würde und schuf damit viele Möglichkeiten, ihr Handeln auf verschiedene Weise zu interpretieren.
In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eröffnete der technische Fortschritt weitere Optionen. Die Entwicklung einzeln lenkbarer und deutlich zielgenauerer atomarer Mehrfachsprengköpfe für land- und später auch seegestützte Langstreckenraketen erlaubte es den USA, die Zerstörung sowjetischer Raketensilos und verbunkerter Kommandozentralen mit strategischen Nuklearwaffen gezielt zu planen. Nach den atomaren Gefechtsfeldwaffen erhielten nun auch strategische Nuklearwaffen eine dezidierte militärische Kriegsführungsfunktion.
Die neuen Möglichkeiten lösten in Moskau erhebliche Befürchtungen aus. Würde die Möglichkeit zu einem atomaren Zweitschlag verloren gehen und die Zeit des Konzeptes „gegenseitig gesicherter Zerstörung“ ablaufen? Diente die vom damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan befürwortete Raketenabwehr (SDI) dazu, die Unverwundbarkeit der USA wiederherzustellen?
In der zweiten Amtszeit Reagans (1984 bis 1988) und nach der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU kam es zu mehreren Gipfeltreffen. Beide Politiker unternahmen einen neuen, konstruktiveren Anlauf zu nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung. Mit ihm wurden jene Nuklearwaffenpotentiale reduziert, die als besonders destabilisierend empfunden wurden. Der INF-Vertrag (1987) eliminierte alle weitreichenden landgestützten nuklearen Mittelstreckenraketen. Gespräche über strategische Waffen führten 1991 zum START-Vertrag ( Strategic Arms Reduction Treaty) zur gemeinsamen allmählichen Reduzierung strategischer Trägersysteme für Nuklearwaffen.
Neue Fragen nach dem Ende des Kalten Krieges
Mit dem Ende des Kalten Krieges mussten etliche alte Grundfragen neu beantwortet werden, etwa welche Rolle die nukleare Abschreckung künftig noch spielen sollte. Anfänglich bestimmte der Abbau der nuklearen Arsenale des Kalten Krieges die Agenda. Auf beiden Seiten waren diese übervoll, um ihre Sicherheit war es nicht zum Besten bestellt und den nuklearen Gefechtsfeldwaffen kurzer Reichweite waren schlicht die Ziele abhanden gekommen. Im Herbst 1991 kam es zu einer ungewöhnlichen Initiative: Die USA und die UdSSR erklärten sich bereit, den überwiegenden Teil der nuklearen Gefechtsfeldwaffen jeweils einseitig aus Europa abzuziehen und außer Dienst zu stellen. Moskau hatte diese Waffen bereits weitgehend nach Russland verlegt, die USA zogen jetzt ebenfalls mehrere Tausend Waffen aus Europa ab. Zurück blieben nur atomare Bomben der USA, deren Zahl in den Folgejahren schrittweise reduziert wurde. Die NATO bezeichnete ihre nuklearen Waffen erstmals – wenn auch vorübergehend - als letztes Mittel.
Auch bei den strategischen Atomwaffen wurden über den START-Vertrag hinausgehende Veränderungen vorgenommen. Statt Nuklearwaffen wie bisher einem festen Set von Zielen vor allem in Russland zuzuordnen, wurde nun eine flexiblere „adaptive“ Zielplanung eingeführt. Russland sei nicht mehr das ständige Hauptziel Tausender nuklearer Waffen. Stattdessen wurden potentielle Nuklearwaffenziele vor allem in Ländern ausgemacht, denen das Streben nach „Massenvernichtungswaffen“ und deren Trägersystemen nachgesagt wurde, wie zum Beispiel dem Irak oder Nordkorea. Begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, dass die USA sich unter Präsident Bill Clinton bemühten, der Nichtverbreitung von „Massenvernichtungswaffen“ ein größeres politisches Gewicht zu geben. Unter der Überschrift „Counterproliferation“ wurde der Einsatz militärischer Mittel zur Bekämpfung der Proliferation diskutiert. Spätestens unter Clintons Nachfolger George W. Bush gehörten auch nukleare Waffen zu jenen militärischen Mitteln, deren Einsatz in diesem Kontext nicht ausgeschlossen wurde. Abgeschreckt werden sollten nicht mehr nur nuklear bewaffnete Gegner, sondern alle Gegner mit „Massenvernichtungswaffen“. Die Regierung Bush konzipierte eine neue Triade der Abschreckung, in der die konventionellen und nuklearen strategischen Offensivfähigkeiten der USA zusammen mit deren Raketenabwehrfähigkeiten und der industriellen Infrastruktur zum Bau beider die Abschreckung gewährleisten sollten.
Es entstand erneut ein globaler Plan für die Abschreckung, der sich gegen sechs potentielle Gegner richtete: Russland, China, Nordkorea, Iran, Syrien und einen terroristischen Angriff mit Massenvernichtungswaffen. Ausformuliert wurden vier verschiedene, begrenzt auch nukleare Kriegführungsmöglichkeiten gegen diese Kontrahenten, zu denen aber keine Planung für einen großen Nuklearangriff mehr gehören sollte. Die Kategorien potentieller Ziele für den Einsatz nuklearer Waffen blieben jedoch weitgehend erhalten: nukleare und konventionelle Streitkräfte, die politische und militärische Führung, für die Kriegführung bedeutsame wirtschaftliche Infrastruktur sowie die Infrastruktur für „Massenvernichtungswaffen“.
In der deklaratorischen Politik wird der politischen, abschreckenden Rolle nuklearer Waffen heute die größte Bedeutung zugemessen. US-Präsident Barack Obama hat dies mehrfach unterstrichen und eine weitere Reduzierung der Rolle nuklearer Waffen angekündigt. Die Nuklearwaffenpotentiale der USA und Russlands sind durch Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung (START, SORT, New START-Verträge) heute deutlich kleiner als zu Ende des Kalten Krieges. Trotzdem zeigt sich in den Bereichen der nuklearen Operations- und Zielplanung, ebenso wie bei den Planungen für die künftige Modernisierung der Atomwaffenarsenale (zielgenauere Sprengköpfe kleinerer Sprengkraft), also bei der faktischen Umsetzung der Nuklearstrategie, dass der militärischen Funktion atomare Waffen bzw. ihrer Bedeutung bei der Kriegsführung weiterhin eine entscheidende Rolle zukommt. Dies wird sich voraussichtlich erst dann ändern, wenn die Zahl nuklearer Waffen durch nukleare Abrüstungsvereinbarungen so weit reduziert wird, dass mit den verbliebenen Waffen keine globalen oder begrenzten militärischen Operationsziele mehr verfolgt werden können. Erst dann könnte die Rolle nuklearer Waffen wohl auf deren politische Abschreckungsfunktion reduziert werden.
Quellen und weiterführende Informationen
- Kristensen, Hans M., Norris, Robert S. und Ivan Oelrich (2009): From Counterforce to Minimal Deterrence: A New Nuclear Policy on the Path Toward Eliminating Nuclear Weapons; in: FAS Occasional Paper No. 7.
- Long, Austin (2008): Deterrence - From Cold War to Long War; in: RAND.
BICC 01/2013