Ist „Global Zero“ sinnvoll? Zu Perspektiven nuklearer Abrüstung

Am 5. April 2009 erklärte US-Präsident Barack Obama in Prag, „Amerikas Entschlossenheit, nach Frieden und Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen zur streben“. Die Diskussion um die Vision einer atomwaffenfreien Welt sowie um Schritte dorthin erhielt damit neuen Schwung. Dabei war sie eigentlich nur von begrenztem Neuigkeitswert. Denn alle US-Präsidenten außer Obamas Vorgänger George W. Bush hatten seit dem Beginn des Atomzeitalters verbal eine atomwaffenfreie Welt befürwortet. Die USA hatten sich ebenso wie die Atommächte Russland, China, Frankreich, und Großbritannien im Atomwaffensperrvertrag von 1968 - verpflichtet „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“

Anzahl von Nuklearwaffen gestern und heute

1985, zu Zeiten des Kalten Krieges, hatten die Nuklearwaffenstaaten zusammen über 60 000 Atomwaffen in ihren Arsenalen – eine Overkill-Kapazität, mit der die Erde mehrfach hätte vernichtet werden können. Rund 98 Prozent der Nuklearwaffen befanden sich im Besitz der USA und der Sowjetunion. Seit dem Ende der Sowjetunion und des Ost-Westkonfliktes ist die Zahl der Nuklearwaffen stark zurückgegangen: 2005 waren es noch 27 000. 2013 rund 17 270 (Alle Zahlen nach: "World Nuclear Forces," in:“SIPRI Yearbook 2013: Armaments, Disarmament, and International Security” Stockholm International Peace Research Institute, Oxford 2013, S. 283f). Davon besitzen Russland rund 8 500, die USA 7 700, Frankreich 300, China 250 und Großbritannien 225 Sprengköpfe. Zu diesen fünf ursprünglichen Atommächten sind inzwischen Indien und Pakistan mit je circa 90 bis 120 und Israel mit rund 80 Sprengköpfen hinzugekommen. Außerdem besitzt Nordkorea genügend Spaltmaterial zur Herstellung von sechs bis acht Atomwaffen. Insgesamt sind etwa 4 400 Atomwaffen einsatzbereit stationiert, 2 000 befinden sich sogar in höchster Alarmbereitschaft.

Über zwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges sind 94 Prozent der Atomwaffen in den Händen der ehemaligen Kontrahenten USA und Russland. Zudem haben die USA und Russland umfangreiche und teure Modernisierungsprogramme für ihre Atomwaffen, Produktionsstätten sowie die atomaren Trägersysteme (Flugzeuge, U-Boote, Interkontinentalraketen) begonnen.

„Global Zero“ – Pro und Contra

Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt fand international breiten Anklang. Unter anderem für diese „Vision“ erhielt Barack Obama wenig später auch den Friedensnobelpreis. Schon vor Obamas Prager Rede hatten sich hochrangige Ex-Politiker dafür ausgesprochen. Unter anderem die ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger und George Shultz, der ehemalige US-Verteidigungsminister William Perry und der ehemalige US-Senator Sam Nunn verfassten 2007 die gemeinsame Erklärung „Eine Welt frei von Atomwaffen“ (George P. Shultz, William J. Perry, Henry A. Kissinger und Sam Nunn: „A World Free of Nuclear Weapons”; in: The Wall Street Journal, 4. Januar 2007).

Eine Ursache des teilweisen Umdenkens in den USA war die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den USA und Russland insbesondere wegen der Ablehnung von Rüstungskontrollen durch den damaligen US-Präsidenten George W. Bush. Sie hatte zu einem Stillstand in den nuklearen Abrüstungsbemühungen geführt hatte. Außerdem bestand die die Sorge vor einer Weiterverbreitung von Atomwaffen, der die US-Regierung ohne eigene nukleare Abrüstung nicht glaubwürdig begegnen konnte.

Kritiker des Ziels einer atomwaffenfreien Welt, z. B. der ehemalige US-Verteidigungsminister Harold Brown, wandten ein, diese Vision sei nicht nur „illusorisch“, sondern sogar „kontraproduktiv“ (Harold Brown und John Deutch: “The Nuclear Disarmament Fantasy,” The Wall Street Journal, 19. November 2007). Auch der deutsche Politikwissenschaftler Professor Christian Hacke argumentierte, dass der Westen auf Nuklearwaffen nicht verzichten könne, weil die nukleare Abschreckung „die amerikanische Vormacht und Handlungsfreiheit“ sichere. Demgegenüber würde „Global Zero“ die freie Welt schwächen: „Würden Nuklearwaffen gänzlich verboten, könnten Diktatoren und andere Schurken mit dieser Trumpfkarte den Westen trefflich erpressen.“ (Christian Hacke: „Abrüsten – aber mit Verstand: Neun Gründe gegen ‚Global Zero“, in: „Internationale Politik“, Heft 5, September/Oktober 2010).

Zweifellos ist die Schaffung einer nuklearwaffenfreien Welt eine „Herkulesaufgabe“. Es müssten sich alle Staaten einem entsprechenden Vertrag anschließen, was bisher zum Beispiel bei den Verträgen über das Verbot von biologischen und von Chemiewaffen nicht gelungen ist. Auch müssten Kontrollmechanismen geschaffen werden, mit denen Ausbruchsversuche frühzeitig erkannt werden könnten. Schließlich wären regional wie international konventionelle Rüstungskontrollvereinbarungen und Systeme kollektiver Sicherheit notwendig, um Sorgen vor militärischen Ungleichgewichten und möglichen Sicherheitsverlusten bei Aufgabe von Atomwaffen aufzufangen (Vgl. zu Problemen von „Global Zero“ u.a. Giorgio Franceschini: „Eine Welt ohne Atomwaffen: Falsche und richtige Fragen“, in: Christiane Fröhlich, Margret Johannsen, Bruno Schoch, Andreas Heinemann-Grüder, Jochen Hippler (Hrsg.): „Friedensgutachten 2010“, Berlin 2010, S. 317 ff). Auch das US-Übergewicht in allen Waffengattungen und das US-Streben nach weltweiter militärischer Dominanz hindern andere Atommächte daran, nach einer nuklearen Null-Lösung zu streben.

Allerdings wird die reale Bedeutung von Atomwaffen oft überschätzt. Ein Grund für den Besitz bzw. das Streben nach Atomwaffen war und ist die Hoffnung, damit Prestige und regionalen bzw. internationalen Einfluss erringen zu können. Doch hat zum Beispiel Frankreich mehr internationalen Einfluss als Deutschland, weil es Atomwaffen besitzt? Fraglich ist auch der sicherheitspolitische Zugewinn von Atomwaffen. Zwar könnte damit eventuell einer konventionellen Überlegenheit begegnet werden. Doch der Ersteinsatz von Atomwaffen würde solches Leid hervorrufen, dass nicht nur militärische Gegenschläge, sondern auch eine starke internationale Verurteilung und Isolierung als unmittelbare Folgen einkalkuliert werden müssten. Dies sei ein Risiko, dass kein Land eingehen werde, argumentieren Atomwaffenkritiker. Nuklearwaffen seien deshalb inzwischen weder politisch noch militärisch einsetzbar (Vgl. John Mueller: „Atomic Obsession. Nuclear Alarmism from Hiroshima to Al-Qaeda”, Oxford/New York, 2010).

Die Gefahr, dass neue Staaten nach Atomwaffen streben, ist vorhanden. Will man ihr begegnen, sind internationale Absprachen über verschärfte Kontrollen von Atomanlagen notwendig.

Perspektiven nuklearer Abrüstung

Die von US-Präsident Obama 2009 angefachte Diskussion um die Vision einer atomwaffenfreien Welt ist inzwischen abgeebbt. Ohnehin war sie nur zum Teil von Schritten begleitet, mit der man dieser Zielvorstellung näher kommen konnte. So haben die USA und Russland 2010 zwar mit dem „Neuen START-Vertrag“ („New Strategic Arms Reduction Treaty“, deutsch: „Neuer Vertrag zur Verringerung der Strategischen Nuklearwaffen“) eine weitere Reduzierung ihrer strategischen Atomarsenale auf jeweils nicht mehr als 1 550 Sprengköpfe vereinbart. Doch eine grundlegende Abkehr von Nuklearwaffen haben auch die USA nicht vollzogen. Sie verzichten nicht auf den nuklearen Ersteinsatz. Unter dem Druck vor allem der republikanischen Kongressmehrheit sagte Obama ebenfalls eine umfassende Modernisierung des US-Atomwaffenkomplexes zu. Auch werden die US-Pläne zur Stationierung von Raketenabwehrsystemen sowie zur Ersetzung von Nuklearwaffen durch neue konventionelle Raketen langer Reichweite fortgesetzt. Gerade diese Rüstungsmaßnahmen werden jedoch von Russland als potenzielle Bedrohung seiner strategischen Zweitschlagsfähigkeiten angesehen, was sich negativ auf Moskaus Bereitschaft zu weiterer nuklearer Abrüstung auswirkt. Auch gelang es Obama nicht, das schon 1996 abgeschlossene „umfassende Atomteststoppabkommen“ vom US-Senat ratifizieren zu lassen. Neben den USA hat auch China dieses Abkommen bisher nicht ratifiziert.

Ob man das Endziel einer nuklearen Nulllösung befürwortet oder nicht, unstrittig ist, dass weitere nukleare Abrüstung sinnvoll und möglich ist. Die heute vorhandenen riesigen nuklearen Arsenale sind weder für die Sicherheit der Atommächte untereinander noch als Schutz gegen Staaten oder Terrorgruppen sinnvoll, die eventuell dabei sind Nuklearwaffen zu entwickeln. Die nächsten nuklearen Abrüstungsschritte können sein:

  • Die USA und Russland können ihre strategischen Arsenale auf jeweils unter 1 000 Stück reduzieren, wie es Obama im Sommer 2013 vorgeschlagen hat. Allerdings dürfte dafür eine vorherige Einigung mit Russland über eine Begrenzung von Anzahl und Qualität von US-Raketenabwehrsystemen notwendig sein. Auch einseitige, also nicht bilateral abgesprochene Verminderungen der Arsenale der nuklearen Supermächte sind möglich.
  • Die circa 200 nuklearen Sprengköpfe, die die USA in Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Italien und der Türkei stationiert haben, könnten abgezogen werden, da ihr militärischer Nutzen fragwürdig ist. Russland könnte wiederum seine 2 000 taktischen Atomsprengköpfe, von denen viele in seinem europäischen Teil stationiert sind, ganz oder teilweise zurückziehen und/oder verschrotten. Der Vertrag über den umfassenden Atomteststopp muss von den USA und China sobald wie möglich ratifiziert werden, um in Kraft treten zu können.
  • Erst wenn Russland und die USA jeweils unter 1 000 Sprengköpfe besitzen, scheint es möglich, auch alle anderen Atommächte zu Abkommen über die Reduzierung ihrer Arsenale zu bewegen. Die Generalversammlung der UNO hat im Dezember 2012 mit 134 Ja-, vier Nein-Stimmen und 34 Enthaltungen die Ausarbeitung von „Vorschlägen für den Beginn von multilateralen Abrüstungsverhandlungen über Atomwaffen“ (Resolution der UN Generalversammlung vom 3. Dezember 2012: “Taking forward multilateral nuclear disarmament negotiations”¸ (http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/RES/67/56) befürwortet. Allerdings haben die USA, Russland, Frankreich und Großbritannien gegen diesen Vorschlag gestimmt, während die Atommächte China, Indien, Pakistan und Israel sich enthielten.
  • Ein Vorschlag sieht eine internationale Atomwaffenkonvention vor, mit der Atomwaffen verboten und ein Zeitplan für ihre Vernichtung vereinbart werden soll. Die „Global Zero“-Initiative von 300 internationalen Persönlichkeiten unterbreitete einen eigenen Plan, der die stufenweise Vernichtung aller Nuklearwaffen bis 2030 vorsieht (Global Zero: „Global Zero Action Plan“, 2010; http://www.globalzero.org/files/gzap_6.0.pdf).

Quellen und weiterführende Informationen

BICC 11/2013


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