Kleinwaffen - die wahren Massenvernichtungswaffen
Nach der Definition gelten Kleinwaffen zwar nicht als „Massenvernichtungswaffen“, weil dieser Begriff chemischen, biologischen und nuklearen Großwaffen vorbehalten ist. Dennoch erklärte der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan 2006: „Auf Grund des Gemetzels, das sie anrichten, könnten Kleinwaffen tatsächlich treffend als ‚Massenvernichtungswaffen’ bezeichnet werden.“
Schätzungsweise 50.000 bis 100.000 Menschen werden jedes Jahr direkt von Kleinwaffen getötet. Das liegt vor allem an ihrer enormen Verbreitung, sowohl in Konfliktgebieten als auch außerhalb. Die Anzahl an Kleinwaffen weltweit wird auf 850 Millionen Stück geschätzt. Diese Zahl ist jedoch schwer zu verifizieren, da Produktion und Handel mit Kleinwaffen naturgemäß sehr intransparent sind. Die schreckliche „Effektivität“ von Kleinwaffen hängt mit einigen ihrer Merkmale zusammen. Sie sind relativ kostengünstig und leicht verfügbar; leicht zu transportieren, schmuggeln und verbergen. Sie sind resistent gegen Schmutz und Korrosion, extrem wartungsarm und langlebig, können also auch nach mehreren Jahrzehnten noch funktionstüchtig sein.
Aber auch indirekt werden Menschen Opfer von bewaffneter Gewalt, bei der Kleinwaffen zum Einsatz kommen. Bewaffnete Konflikte haben infrastrukturelle Folgen; sie erschweren etwa den Zugang zu medizinischer Versorgung oder verursachen Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser und Unterkunft. Die Opferzahl ist umso höher, desto schwächer die Infrastruktur auch schon vor Konfliktbeginn war. Schätzungen zu Folge kommen auf jeden direkten Todesfall in von bewaffneter Gewalt betroffenen Gebieten vier indirekte Todesopfer, also mindestens 200.000 pro Jahr.
Auch wenn Kleinwaffen selbst natürlich keine Konflikte verursachen, kann allein ihr verbreitetes Vorhandensein in viererlei Weise zu erhöhter bewaffneter Gewalt beitragen:
1. Kleinwaffen sind das unmittelbare Instrument Gewalt anzuwenden.
2. Der Gebrauch von Kleinwaffen wird umso wahrscheinlicher, desto leichter sie verfügbar und Teil des alltäglichen Lebens sind.
2. Kleinwaffen tragen zu Dynamiken der Unsicherheit bei. Einzelpersonen oder Gruppen greifen mit höherer Wahrscheinlichkeit auf Gewalt als Lösungsstrategie zurück, wenn Sie ihre „Feinde“ als gewalttätig wahrnehmen – besonders wenn dieser über die entsprechenden Waffen verfügt.
3. Kleinwaffen haben eine bei weitem stärkere zerstörerische Wirkung als „kalte Waffen“, also Schlag-, Hieb- oder Stichwaffen. Ein typisches Beispiel hierfür sind die Stammeskonflikte im Südsudan, wo Viehdiebstähle und gewaltsamer Wettbewerb um Weideland Tradition haben. Während diese Praktiken in der Vergangenheit mit Speer, Pfeil und Bogen durchgeführt wurden, hat die extreme Verbreitung von vollautomatischen Sturmgewehren in den letzten Jahrzehnten zur Eskalation dieser Konflikte geführt und zur Instabilität des jungen Landes beigetragen.
Es verwundert also nicht, dass zwischen 60 und 90 Prozent der jährlich schätzungsweise 740.000 Todesopfern von bewaffneter Gewalt auf Kleinwaffen zurückzuführen sind. Dabei ist aber zu hervorzuheben, dass Kleinwaffen selbst keinerlei Schaden anrichten, solange es keinen Menschen gibt, der sie gebraucht. Konflikte sind extrem komplex und ihre Entstehung und Eskalation ist immer das Resultat vieler Faktoren – Kleinwaffen sind nur einer davon. Kritiker der Kontrolle von Kleinwaffen ziehen in diesem Zusammenhang oft die Schweiz als Beispiel für ein Land heran, das trotz extrem hoher Verfügbarkeit von Kleinwaffen eine sehr geringe Rate von Waffenmissbrauch aufweist.
Die Debatte um Kleinwaffenkontrolle ist zum Teil ideologisch und kulturell geprägt. Verschiedene Gesellschaften bewerten Waffen und Bewaffnung unterschiedlich und diese Bewertung wirkt sich auch auf die internationale Diskussion über die Notwendigkeit und den Umfang von Waffenregulierung aus. In den USA ist das Recht auf individuellen Waffenbesitz in der Verfassung verankert und gesellschaftlicher Konsens. So wird beispielsweise die Verteidigung der eigenen Wohnung als legitimer Grund für Waffenbesitz akzeptiert. Halbautomatische Waffen mit größeren Magazinen sind in weiten Teilen der USA leicht verfügbar. In Deutschland hingegen steht die Bevölkerung privatem Waffenbesitz sehr kritisch gegenüber, wie die öffentliche Diskussion über dessen Regulierung nach den verschiedenen Amokläufen der vergangenen Jahre verdeutlichte. In Teilen des Nahen Ostens wiederum sind selbst vollautomatische Waffen normaler Teil des alltäglichen Lebens, wenn beispielsweise bei Feiern oder Beerdigungen Salutsalven abgefeuert werden.
Solch kulturell geprägten Ansichten und Praktiken betreffen zwar in erster Linie die nationalstaatliche Regelung von Waffenbesitz, sie wirken sich jedoch auch auf die Debatte um internationale Kleinwaffenkontrolle aus, bei der es vor allem um den internationalen Handel von Kriegswaffen geht. So stehen die Vereinigten Staaten internationalen Abkommen zur Kleinwaffenkontrolle meist ablehnend oder kritisch gegenüber, während andere Regionen, wie beispielsweise Westafrika, die besonders von bewaffneter Gewalt betroffen sind oder waren, die Produktion, den Handel und den Transfer von Kleinwaffen strikt regulieren wollen.
Quellen und weiterführende Informationen:
- Geneva Declaration – Global burden of armed violence 2008
- TRESA/BICC – SALW and development 2006
- UN - Freedom from fear
- UNODC – Global study on homicide 2011
BICC 05/2012