Fallstudie DD&R Afghanistan

Im Jahr 2003 rief das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP) das Afghan New Beginnings Programm (ANBP, bis März 2011) ins Leben. Es unterlag der Verantwortung des afghanischen Präsidenten und sollte die afghanische Regierung bei der Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung von Exkombattanten unterstützen. Finanziert wurde das Programm für den Neubeginn ANBP vor allem durch Japan, aber auch durch das Vereinigte Königreich, Kanada, die USA, die Niederlande, die Europäische Union, Norwegen, die Schweiz und die Europäische Kommission. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) verwaltete und führte es mit Hilfe der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (eng.: International Security Assistance Force, ISAF) durch. Die von der von der afghanischen Regierung einberufene Demobilisierungs- und Reintegrationskommission (Demobilization & Reintegration Commission, C&RC) koordinierte diesen Prozess.

UNAMA identifizierte ca. 83.000 bewaffnete Kämpfer, die am DD&R-Programm teilnehmen sollten, um entweder wieder in das zivile Leben reintegriert oder für die neu aufgebaute afghanische Armee oder Polizei rekrutiert zu werden. Dadurch sollten die zu Zeiten der Taliban existierenden informellen und formellen militärischen Strukturen aufgelöst und die Rechtsstaatlichkeit und die Autorität der afghanischen Regierung durch den Aufbau einer nationale Armee und Polizei wiederhergestellt werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, mussten zunächst die Kampfeinheiten ihre schweren Waffen abgeben. Diese wurden an verschiedenen Orten im Land gelagert. Der zweite Schritt war, die verschiedenen bewaffneten Gruppen aufzulösen.

Zwischen 2004 und 2005 wurden ca. 60.000 Männer demobilisiert. Im Gegensatz zu DD&R-Prozessen in anderen Ländern, wurden in Afghanistan die ehemaligen Kämpfer nicht auf zentrale Lager verteilt, sondern an ihren Wohnsitzen demobilisiert. Kämpfer, die ins zivile Leben zurückkehren wollten, durchliefen dafür mehrere Stationen. Zunächst gaben sie ihre Waffen ab. Dann wurden ihre Einheiten bei einer letzten Heerschau inspiziert, wobei einige Kämpfer mit Orden ausgezeichnet wurden. Jeder Kämpfer wurde schließlich formal demobilisiert und bekam den Gegenwert von 200 US-Dollar in afghanischer Währung, 130 Kilo Nahrungsmittel und einige Gebrauchsgegenstände.

Danach erhielt jeder Demobilisierte eine Beratung hinsichtlich seiner zukünftigen zivilen Laufbahn. Etwa 44 Prozent von ihnen entschieden sich für eine Beschäftigung in der Landwirtschaft, wofür sie z.B. mit Werkzeug oder Setzlingen ausgestattet wurden. 39 Prozent wählten Handwerksberufe wie Tischler, Mechaniker oder Schneider. Acht Prozent wollten sich selbständig zu machen und nahmen eine kaufmännische Weiterbildung und Unterstützung bei der Existenzgründung in Anspruch. Die verbleibenden neun Prozent schlossen sich der Armee oder der Polizei an oder ließen sich als Minensucher fortbilden.

Eine besonders große Herausforderung in Afghanistan war (und ist) der Einfluss sogenannter „Kriegsfürsten“ (eng. „warlords“). Diese Befehlshaber aus der Zeit der Taliban üben auch weiterhin Macht aus und erfahren Unterstützung seitens der Bevölkerung. Sie stützen sich auf bewaffnete Einheiten, die ihnen und nicht der zentralen Regierung gegenüber loyal sind. Um diese Gruppe, die eine potentielle Gefahr für den Stabilisierungsprozess darstellt, zu reintegrieren, wurden besondere Anreize im Rahmen des Commanders Incentive Programme (CIP) geschaffen. Es bot Kommandanten mit mindestens dem Rang eines Brigadiers verschiedene attraktive Wiedereingliederungsangebote. Hierzu gehörten eine finanzielle Unterstützung für die Zeit der Arbeitslosigkeit zur Sicherung eines minimalen Einkommens, eine kaufmännische Weiterbildung sowie Reisen ins Ausland. Etwa 450 hochrangige Kommandanten haben die Maßnahmen in Anspruch genommen.

Auch die Kindersoldaten in Afghanistan brauchten besondere Unterstützung. Mit ihnen beschäftigte sich das Weltkinderhilfswerk UNICEF, das besondere Programme zur Demobilisierung und Reintegration von Kindern, die in einem Alter von bis zu 17 Jahren in Kampfhandlungen einbezogen waren, entwickelt hat. Sie beinhalteten Schulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, einschließlich Alphabetisierungskursen, sowie medizinische Betreuung und Nahrungsmittelhilfe.

Die Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung in Afghanistan erstreckte sich auch auf die Auflösung illegaler bewaffneter Gruppen, in denen Menschen mitgemacht haben, die – etwa als lokale „Teilzeitguerillas“ - nicht offiziell als Kämpfer registriert waren. Das DIAG-Projekt (Disbandment of Illegal Armed Groups) im Rahmen des oben erwähnten „Programms für den Neubeginn“ zielte darauf ab, die Sicherheit zu verbessern, indem es eben alle bewaffneten Gruppen dazu animierte, sich aufzulösen.

Um DD&R in Afghanistan voranzubringen war zudem noch ein Projekt zur Unterstützung der Reintegration (Reintegration Support Project, RSP) ins Leben gerufen worden, um Regierungsbeamte für Fragen der Wiedereingliederung von ehemaligen Kämpfern zu sensibilisieren und für den DD&R-Prozess zu befähigen. Es endete im Jahr 2007.

Kosten und Erfolg des DD&R-Prozesses

Die Gesamtkosten all dieser Projekte wurden von internationalen Geldgebern bestritten. Insgesamt wurden 141 Millionen US-Dollar für Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung ausgegeben. Das federführende Land für den DD&R-Prozess, Japan, trug 91 Millionen US Dollar bei. Andere Länder (Großbritannien, Kanada, USA, Italien, Deutschland und die Europäische Kommission) beteiligten sich mit mehreren Millionen US-Dollar pro Land.

Der Erfolg des DD&R-Prozesses in Afghanistan kann unterschiedlich bewertet werden. Auf der einen Seite ist es gelungen, kämpfende Einheiten zu entwaffnen und zu demobilisieren, die sonst ein schwerwiegendes Problem für die neue Regierung hätten sein können. Dies betrifft 60.000 bis 70.000 Kämpfer, die offenbar wieder in das Zivilleben integriert werden konnten.

Auf der anderen Seite haben Umfragen bei einigen ehemaligen Kämpfern ergeben, dass sie mit dem Prozess unzufrieden sind und einige von ihnen Schwierigkeiten hatten, einen befriedigenden zivilen Job zu bekommen. Einige Kommandanten behielten oft einen Kern loyaler Kämpfer um sich und benutzten diese als Druckpotential, um sich politische, lukrative Positionen in der Regierung zu sichern. Einige jüngere demobilisierte Kämpfer wiederum erlagen Jahre nach ihrer Demobilisierung der Versuchung, sich entweder den wieder erstarkenden Taliban oder anderen kämpfenden Rebellengruppen in Afghanistan anzuschließen.

Quellen und weiterführende Informationen

BICC 11/2011


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